Samstag, 7. Juni 2008

Besuch

Im April haben meine Eltern mich für 3 Wochen hier in Brasilien besucht.
Meine Eltern und ich unterwegs
Ich habe meinen Vater anschliessend gebeten, einige seiner Eindrücke von diesem Land, den Menschen, den Erlebnissen niederzuschreiben und mir zur Verfügung zu stellen. Deshalb beginnt dieser sechste Rundbrief mit einem Gastbeitrag:

Da meine Frau und ich uns auf den Weg machten, das für uns ferne Brasilien zu besuchen, war mir schon klar, dass es viele Dinge geben wird, die mir zunächst befremdlich erscheinen mussten.

Zum Beispiel fühlte ich mich die ersten Tage in Brasilien sehr unwohl, mich als weißer und blasser Mitteleuropäer in einer Welt wieder zu finden, die von Menschen tiefschwarzer bis hellbrauner Hautfarbe geprägt ist.

Meine Mutter mit Mitarbeiterinnen des Centro Beneficente
Ganz deutlich spürte ich das, als wir am nächsten Tag nach unserer Ankunft in São Luís im Stadtzentrum Besorgungen machen mussten, da wir noch einige Dinge für unseren Aufenthalt benötigten. Ich fühlte ständig die Blicke der Menschen auf mich gerichtet. Waren es neugierige Blicke oder geringschätzige? Ich wusste es nicht. Ich kam mir vor wie ein Fremdkörper in dieser für mich neuen Welt. Diese Welt erschien mir die ersten Tage als eine feindliche. Hatte ich vorher zuviel Negatives mir angelesen und angehört? Warnungen vor Taschendieben, hohe Kriminalität und Bandenkriege in Brasilien müssen wohl dazu beigetragen haben. Ich als Weißer in einer farbigen Welt, das war in den ersten Tagen ein Problem für mich gewesen. Das legte sich aber bald nach drei bis vier Tagen. Ich musste oft an unsere Asylanten in Deutschland denken, die aus Afrika oder Sri Lanka zu uns gekommen waren, und die sich bei uns ständig aufhalten müssen. Farbige Menschen im weißen Deutschland. – Nur ich konnte nach drei Wochen wieder zurück in meine weiße Heimat mit der mir bekannten Kultur.

Da gab es noch eine Begegnung, die mich sehr beeindruckt hat. Wir waren bei Familie, Stephans Freunden, eingeladen. Es war Abend, als wir eintrafen, und die gesamte Familie (drei Generationen) standen um den Tisch herum und bereiteten für uns eine sehr große Schüssel Obstsalat. Dabei fiel der Familie auf, dass wir, meine Frau und ich, an der linken Hand einen dunklen Ring trugen und wollten um seine Bedeutung wissen. Es wurde ihnen erklärt, dass dieser Ring aus der Nuss einer Palme von brasilianischen Frauen der Landbevölkerung hergestellt wird. Er bedeutet ein Solidaritätszeichen mit der armen Landbevölkerung im Nordosten Brasiliens. Mich und meine Frau beeindruckte stark die Reaktion der Familie. In den Gesichtern war ganz deutlich Überraschung, Stolz und Verbundenheit zu lesen, weil es im fernen Deutschland offensichtlich Menschen gibt, die sich mit ihnen solidarisieren.


Neben dem Besuch bei unserem Sohn in São Luís statteten wir noch zwei Besuche bei Missionaren ab, die nicht „weit“ weg in Bacabal und Natal seit über 40 Jahren ihren Dienst tun. Die Katechetin in Natal aus der direkten Nachbarschaft in unserem Dorf und ein Franziskanerpater, aus dem Nachbardorf stammend, trafen wir bei dieser Gelegenheit. Dabei wurde uns ganz deutlich bewusst, wie wichtig solche Besuche aus der Heimat für diese Menschen sind. Große Freude, dass wir sie besuchten und sie uns ihre Pfarrgemeinden und Aufgabenfelder zeigen konnten. Und auch, man darf das ruhig sagen, große Freude und Stolz „ihren“ Leuten zu zeigen: Seht her, das ist Besuch aus dem fernen Deutschland.


Kennenlernen und Verstehen
Das Besuchsprogramm mit meinen Eltern brachte mich selbst auch in den Genuss, bestimmte touristische Leckerbissen von Maranhão kennenzulernen, die ich vorher noch nie besucht hatte. So fuhr meine Gastfamilie (die für 3 Wochen auch Gastgeber für meine Eltern war) mit uns an einem Wochenende nach Barreirinhas, einem Touristenort in der Nähe der „Lençóis maranhenses“ (wörtlich übersetzt: die Bettlaken von Maranhão).
Bootsfahrt auf dem Rio Preguiças
Dies ist ein 1550 km² grosses Dünengebiet an der Küste des hiesigen Bundesstaates, das sich weit ins Landesinnere erstreckt. In der Regenzeit sammelt sich zwischen den Dünen das Wasser und es entstehen kristallklare Lagunen. Erstaunlich ist, dass man, wenn man am Rand der Lençóis steht, auf der einen Seite nur Busch, auf der anderen nur Wüste vor sich hat.
In den Lençois Maranhenses
Ich gehe ein Stück allein in dieses Sandmeer hinein und scheine plötzlich der einzige Mensch weit und breit zu sein. Kein Lüftchen geht, nur die Sonne brennt unbarmherzig heiss. Ich bleibe stehen und jetzt merke ich, was hier so aussergewöhnlich ist: Ich höre...nichts. Einfach nichts. Nur meinen eigenen Atem. Nur meine eigenen Bewegungen. Nichts, was ablenkt. Nichts, was zerstreut. Nichts, was betäubt. Nichts, was einlullt. Nur Stille.
Ich bin das erste Mal in einer Wüste und es reizt mich, hier einmal längere Zeit zu verbringen. Vierzig Tage oder so...

Ein weiterer touristischer Höhepunkt war unser Besuch in Alcântara, einer alten Stadt aus der Kolonialzeit in der Nähe von São Luís. (Alles, was in Brasilien älter als 200 Jahre ist, gilt bereits als antik.)
In Alcântara
Was für mich den Reiz dieser Stadt ausmacht, ist zum einen die Beschaulichkeit, zum anderen sind es die vielen zerfallenen und mit Moos und Flechten überwachsenen Gebäude und Ruinen, Zeugen einer prunkvollen Vergangenheit. Die früheren Bewohner dieser einstmals bedeutendsten und reichsten Stadt von Maranhão hatten viel in diese investiert, denn in der Mitte des 19. Jahrhunderts sollte Dom Pedro II., der damalige Kaiser von Brasilien, Alcântara besuchen. So bauten denn einige der reichen Bürger der Stadt grosszügig angelegte Häuser mit 30 und mehr Zimmern, in denen sich der Kaiser wohlfühlen sollte. Leider kam es aber nicht zu diesem sehnlichst erwarteten, hochherrschaftlichen Besuch, denn er wurde schlicht und einfach abgesagt. Mit dem Verfall der Preise für Zuckerrohr und Baumwolle um 1865 begann dann der Niedergang der Stadt bis hin zur Bedeutungslosigkeit...
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Der Fremdenführer, der uns mit der Stadt und ihrer Geschichte bekanntmachte, schien jedoch seine Hausaufgaben nicht besonders gewissenhaft gemacht zu haben. Denn die wichtigen Gebäude der Stadt wurden seiner Auskunft nach allesamt im Jahre 1614 erbaut: „Dieses Haus war der Wohnsitz der Familie XY.“ „Wann wurde es erbaut?“ „Es stammt aus dem Jahr 1614.“ – „Vor uns das Gebäude ist das Stadthaus des Barons NN. gewesen.“ „Aus welcher Zeit stammt es?“ „Von 1614.“ – „Hier sehen Sie die Überreste der ehemaligen Pfarrkirche.“ „Wann wurde sie errichtet? 1614?“ „Ja, genau.“ Im Jahr 1614 muss einen wahren Bauboom in Alcântara gegeben haben...
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Auch deutete der Führer das Symbol des Franziskanerordens – ein Arm des Franziskus gekreuzt mit einem Arm Christi vor dem Kreuz – kurzerhand um in ein Zeichen der Verbrüderung zwischen weisser und farbiger Rasse.

Der Besuch meiner Eltern war aber nicht nur schön wegen der Zeit, die wir (nach langer Zeit wieder) miteinander verbracht haben. Er war mir von daher auch wichtig, weil ich ihnen zeigen konnte, wo, wie und mit wem ich hier lebe. Es ist nun eine andere Ebene von Verstehen möglich; zu verstehen, wenn ich über dieses Land und die Menschen, meine Arbeit hier erzähle; zu verstehen, was mich an diesem Land fasziniert, was mich hier hinzieht.


Lieber nicht krank werden
So schön und wichtig für mich der Besuch meiner Eltern auch gewesen ist, er war auch äusserst anstrengend für mich: Ständig übersetzen, wachsam sein, organisieren, auch sorgen. Ich hab´s gern getan (besonders das Übersetzen zeigte mir, dass ich doch ganz gut die Sprache kann); doch hat mir am Ende der drei Wochen mein Körper signalisiert, dass es genug ist: Ich hab ´ne heftige Erkältung mit Fieber bekommen und lag einige Tage im Bett. Als es dann nicht besser wurde, hab ich mich im Krankenhaus behandeln lassen. Der Arzt hat mir drei Infusionen verschrieben. Bei der zweiten wurde mir plötzlich schwindlig und heiss und ich bekam kaum noch Luft. Als ich dann der Schwester erklären konnte, was gerade mit mir passierte, legte man mich auf eine Liege und ich bekam Sauerstoff, so dass es mir schnell wieder besser ging. Das ganze zeigte mir, dass ich einfach nun eine Ruhepause brauchte, wieder in geregelte Bahnen kommen musste.

Diese unfreiwillige Stippvisite im brasilianischen Gesundheitssystem brachte mir aber auch einen kleinen Einblick in selbiges. Ich würde das Gesundheitssystem hierzulande als Zweiklassensystem bezeichnen, das die Menschen – wie so vieles andere in diesem Land auch – nach der Grösse ihres Geldbeutels einteilt in: Du bekommst eine ordentliche medizinische Versorgung – und du nicht. Manchmal auch: Du überlebst - und du nicht.
Jeder Brasilianer hat im Grunde ein Anrecht auf eine kostenlose medizinische Grundversorgung. Dafür gibt es an vielen Orten in der Stadt (und auf dem Land) öffentliche Gesundheitsposten, in denen Ärzte und Krankenschwestern ihre Dienste anbieten (sollen). Ausserdem gibt es 2 öffentliche Krankenhäuser für die Millionenstadt São Luís. Diese sind Anlaufpunkte für die Teile der Bevölkerung, die sich keine Krankenversicherung leisten können. Das sind immerhin etwa 140 der 190 Millionen Einwohner Brasiliens.
Wer dagegen einen „plano de saúde“ (Krankenversicherung) hat, zahlt monatlich einen Beitrag (auch je nach Geldbeutel) und kann die Dienste privater Kliniken und Krankenhäuser in Anspruch nehmen. Hier erhält man in der Regel eine umfassende Versorgung, auch mit Spezialisten und kann damit rechnen, keine langen Wartezeiten zu haben. Da ich eine Reisekrankenversicherung habe, bin ich ebenfalls zu einer Privatklinik gegangen, denn hier kann man sich auch behandeln lassen, wenn man die Rechnung selbst bezahlt.

Die Familien der Kinder unseres Projektes können das nicht. Sie sind auf das öffentliche System angewiesen. Sie gehen auch nur im äussersten Notfall ins Krankenhaus, da ein Besuch meistens mit langen Wartezeiten verbunden ist. Besonders am Wochenende sind die zwei einzigen Notfallambulanzen in den Krankenhäusern total überlaufen. Da wartet das Kind mit gebrochenem Arm neben dem Mann, der eine Schnittwunde am Bein hat und in seinem eigenen Blut steht; ein Stück weiter stirbt ein Jugendlicher an einer Schussverletzung...
Nicht selten können Kranke monatelang nicht arbeiten und Geld für die Familie verdienen, weil sie auf die notwendige Operation warten müssen. Und manchmal sterben Menschen auch, weil der Krebs schneller war...

Was speziell die Kinder des Centro Beneficente angeht, kommen sie manchmal mit kleinen schlecht oder gar nicht versorgten Wunden zu uns, weil sie mit dem Fahrrad, dessen Bremsen nicht funktionierten, gestürzt sind oder weil sie beim Fischen im Fluss in eine Glasscherbe getreten sind. Wenn ich sie dann mithilfe unserer „Hausapotheke“ versorge, merke ich immer wieder, wie sehr sie dies geniessen: Es sorgt, es kümmert sich jemand um mich; es will jemand, dass es mir wieder gut geht. Dazu noch ein paar gute Worte und Streicheleinheiten erhalten: Zu Hause erfahren sie dies wohl zu selten.


Wenn Jugend missioniert
Ich, der ich ja als „Missionar auf Zeit“ hier in Brasilien bin, habe letztens erlebt, wie Mission hierzulande aussehen kann – und war beeindruckt. In der comunidade (Filialgemeinde) „São Francisco“, in der Favela von Alemanha, fand eine „missão dos jovens“ statt, eine Art Gemeindemission durch Jugendliche. In dieser Gemeinde, einer der 13 Filialen unserer Pfarrei, gibt es seit einiger Zeit keine Jugendgruppe mehr, die sich aktiv am Gemeindeleben beteiligt. Und so hat der Gemeinderat von „São Francisco“ gemeinsam mit den Koordinatoren der „pastoral da juventude“, der Jugendpastoral, beschlossen, eben diese „missão dos jovens“ durchzuführen.

Hierzu kamen an einem Wochenende im Mai etwa 50-60 begeisterte Jugendliche aus funktionierenden Gruppen anderer Gemeinden der Pfarrei als Missionare nach Alemanha. Sie quartierten sich ein Wochenende lang in Familien vor Ort ein, nahmen Kirche und Gemeinderäume in Beschlag und füllten sie mit Leben.
Der Freitagabend begann mit einer Vigil und Nachtanbetung in der Kirche, um die Jugendlichen auf ihre Aufgabe vorzubereiten und zu stärken. Am Samstagvormittag schwärmten dann die Jugendlichen in kleinen Gruppen aus und besuchten die Häuser und Familien in der Gemeinde, suchten das Gespräch mit ihnen, hörten sich Freuden und Nöte der Menschen an, beteten mit ihnen, teilten das Wort Gottes mit ihnen und luden sie und besonders die Jugendlichen ein, sich in das Gemeindeleben miteinzubringen bzw. in der neu zu gründenden Jugendgruppe mitzumachen.


Am Samstagnachmittag wurden in den Gemeinderäumen einige Projekte vorgestellt, die Jugendgruppen in ihren Gemeinden durchgeführt hatten, andere führten Strassentheater auf, zu dem sich schnell eine Menge interessierter Bewohner der Favela einfand. Am späten Nachmittag begann dann ein Weg durch die Strassen des Viertels, angeführt von einem grossen Lautsprecherwagen, auf dem eine Jugendband fetzige Musik spielte und sang. Der Wagen war umgeben von einer Wolke singender und tanzender begeisterter junger Menschen, die mit der Zeit immer mehr Leute anzog und grösser wurde. An verschiedenen Stellen in der Favela machte die Menge halt und verschiedene Gruppen führten Tänze auf, immer in Verbindung mit einer Einladung an die Bewohner. Der Zug endete abends an einem weiträumigen Platz, wo Jugendliche eine beeindruckende, moderne Version des Gleichnisses vom verlorenen Sohn darboten. Nach einem gemeinsamen Gebet ging der zweite Tag der Mission zu Ende.

Am Sonntagmorgen trafen sich alle Jugendlichen und die Gemeinde in der Kirche, um gemeinsam Messe zu feiern und anschliessend wurden die Erfahrungen, die die Gruppen bei ihren Besuchen gemacht haben, miteinander geteilt. Fast alle haben ablehnende, aber auch herzlich aufnehmende Menschen erlebt – und Jugendliche, die sich in der neuen Gruppe engagieren wollen. Eine Gruppe erzählte folgendes: Sie seien in ein Haus gekommen, wo offenbar nur der Hausvater anwesend war. Auf die Frage der Jugendlichen, ob sie zu einem Gespräch hereinkommen dürften, antwortete der Mann, er arbeite gerade im Haus und habe keine Zeit. Da boten ihm die Jugendlichen kurzerhand an, sich mit ihm zu unterhalten, während er weiterarbeite. Der Mann willigte ein und es entspann sich ein gutes Gepräch zwischen ihnen.
Nach dieser Auswertung endete die Mission mit dem gemeinsamen Mittagessen. Ich selbst habe diesen ganzen Prozess zwar nur anteilig erlebt, was mich aber am meisten beeindruckt hat, war, dass hier Jugendlichen zugetraut wird (und Jugendliche sich zutrauen!), die Botschaft vom Reich Gottes zu den Menschen zu bringen. Jugendliche evangelisieren Jugendliche: Das ist das Prinzip, nach dem die Jugendpastoral in Brasilien funktioniert und – wie ich schon zu verschiedenen Gelegenheiten erleben durfte – offenbar gute und fruchtbare Arbeit leistet.

Stephan in Brasilien

Als Missionar auf Zeit in São Luís

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